Rezi: Der Schattenesser
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Jüdische Mystik im Dreißigjährigen Krieg
„Es sieht ganz so aus, als sei außer der Liga eine weitere Gefahr über die Stadt gekommen.“ Er stockte, dann fuhr er fort: „Irgend etwas schleicht durch die Gassen und raubt den Menschen ihre Schatten, Sarai, und ich habe nicht die mindeste Vorstellung, was es sein könnte.“
Historischer Hintergrund ist der Bömisch-Pfälzische Krieg
Prag im Jahre 1620. Die Armee Friedrichs von der Pfalz wurde in der Schlacht am Weißen Berg zerschlagen, und als sich Soldaten und Söldner der Katholischen Liga in Prag verbarrikadieren und nach Herzenslust wüten, bittet der „Herzkönig“ Friedrich den Fürsten Siebenbürgens um Hilfe.
Vor dieser historischen Kulisse, in der die Menschen einigen willkürlichen Gefahren ausgesetzt sind, und sogar mit dem Tod dafür bestraft werden, wenn sie auf der Karlsbrücke zu schnell oder zu langsam gehen oder gar stehen bleiben, taucht ein weiterer Schrecken auf: Menschen sterben von eigener Hand, aber das Seltsame daran ist, dass sie alle keinen Schatten werfen. Als Sarai, ein junges jüdisches Mädchen, ihren Vater sterbend vorfindet, ändert sich ihr Leben abrupt. Auf ihrem Weg, die Wahrheit zu ergründen, begegnet sie nicht nur dem „Ewigen“, dem „ohne-Angst-Mann“, sie lernt Joseph, den Golem kennen, wird von Leander Nadeltanz erwählt und fliegt mit Kaspar, der lebenden Kanonenkugel durch die Luft. Uns begegnen ein verrückter Papiermacher und ein seltsamer Hühnerkult...
Fragmente aus der jüdischen Mystik sowie anderen Mythen
Aber was hat es mit dem Schattenesser auf sich? Was ist überhaupt ein Schattenesser, kann man ihn besiegen, und wenn ja, wie? Kai Meyer hat die jüdische Mystik brillant in diese historische Städte fließen lassen und lässt seine Leser nicht nur mehr über einen kleinen Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erfahren und in die Geschichte eintauchen, er lässt ebenso Teile der jüdischen Glaubenslehre lebendig werden wie Überzeugungen der Azteken oder gar Märchenfiguren. Durch seinen Schreibstil, Gedankengänge wiederzugeben und sie vom jeweiligen Handelnden selbst zu hinterfragen, entsteht ein Roman, der zum Teil auf Horrorvisionen und Wahnvorstellungen aufbaut, die sich am Ende auf die eine oder andere Art sogar bewahrheiten.
Der Alchemist Cassius fungiert teilweise als erklärender Erzähler, ein sehr gelehrter Mann, der um die Legenden weiß und Sarai und den Leser nicht immer an seinem Wissen teilhaben lässt. So geht Sarai bis zum Äußersten, um die Wahrheit zu erfahren.
Im Nachwort bekommt der Leser dann einen kleinen Überblick, aus welchem Legendengut Kai Meyer einzelne Mythenstränge entnommen hat und mit den historischen Gegebenheiten verband. Fast alle handelnden Personen sind, so weit ich beurteilen kann, jedoch reine Erfindung.
Ein sehr interessantes Buch, reich verzweigt, teilweise grausam, aber niemals langweilig.